Interview mit Dr. Guido Beckmann zu 20 Jahre EtherCAT im Motion-Control-Umfeld
EtherCAT hat sich in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich als ultraschnelles Kommunikationssystem etabliert, und zwar in allen Automatisierungsbereichen. Besonders rasch und umfassend gelang dies im Motion-Umfeld mit seinen hohen Anforderungen u. a. hinsichtlich Übertragungsgeschwindigkeit, Synchronität und Diagnosemöglichkeiten. Details hierzu erläutert Dr. Guido Beckmann, Senior Management Control System Architecture bei Beckhoff und Leiter des Technical Committee der ETG, im folgenden Interview.
Guido, seit wann bist Du bei Beckhoff in die EtherCAT-Entwicklung involviert und was waren im Lauf der Jahre deine Aufgabenschwerpunkte?
Dr. Guido Beckmann: Ich habe 2006 bei Beckhoff im Technologiemanagement für EtherCAT angefangen. Vorher hatte ich bereits meinen Schwerpunkt im Bereich der industriellen Kommunikation und Feldbusse – und als Beckhoff die EtherCAT-Technologie im Jahr 2003 vorgestellt hat, war ich von Anfang an begeistert von dessen Eigenschaften. In der EtherCAT Technology Group (ETG) bin ich seit 2007 der Leiter des Technical Committee und verantwortlich für verschiedene Arbeitsgruppen, insbesondere zur Safety-over-EtherCAT-Technologie und für die Antriebsprofile. Für Beckhoff evaluiere ich zudem neue Technologien für Steuerungsarchitekturen. Beispiele sind die Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten des 5G-Mobilfunkstandards, aufkommende Kommunikationsstandards im Bereich von Time Sensitive Networking (TSN) und die Nutzung von OPC UA für die herstellerunabhängige Steuerungskommunikation.
Welche besonderen Anforderungen hat dabei das Thema Motion an deine Arbeit gestellt?
Dr. Guido Beckmann: Ausgezeichnete Performance, flexible Topologie und einfache Konfiguration kennzeichnen EtherCAT als Ethernet-Feldbus mit Motion-Control-Qualitäten. Kurze Zykluszeiten zusammen mit einer präzisen Synchronisation sind die Grundlage für die Verwendung des Systems in hochdynamischen Motion-Applikationen. Das bedeutet, dass mithilfe von EtherCAT innerhalb einer Applikation koordinierte Bewegungen vieler Servoachsen zeitgleich mit der Auswertung von Sensorik und der Ansteuerung von digitalen oder analogen Ausgangssignalen präzise aufeinander abgestimmt werden können.
EtherCAT hat sich inzwischen als wichtigster Motion-Feldbus etabliert. Welche technologischen Eigenschaften waren hierfür ausschlaggebend?
Dr. Guido Beckmann: Das stimmt. Wir kennen inzwischen über 200 Antriebshersteller, die eine EtherCAT-Schnittstelle unterstützen. Diese Hersteller bieten bei Weitem mehr als 1.000 unterschiedliche EtherCAT-Antriebsgeräte an, die vom Anwender für seine Applikation genutzt werden können. Die harten Anforderungen der Antriebstechnik an ein Feldbussystem lassen sich schnell aufzählen: Zykluszeit, Synchronität und Gleichzeitigkeit. Typische Werte für benötigte Zykluszeiten liegen im Bereich von 1 ms oder 500 µs, in einigen Anwendungen auch bei moderaten 2 ms (zyklische Lagevorgabe mit Lageregelung im Antrieb). In extremen Fällen werden aber auch Zykluszeiten von 62,5 μs (über den Bus geschlossener Stromregelkreis) benötigt. Während die Synchronität den zeitlichen Jitter der Abarbeitung der Funktionen in den beteiligten Teilnehmern (Antriebe und Steuerung) angibt, definiert die Gleichzeitigkeit das Maß des zeitlichen Versatzes dieser Funktionen. EtherCAT nutzt für die Synchronisationsregelung einen Ansatz, der auf sogenannten „verteilten Uhren“ basiert: Alle Teilnehmer besitzen eine eigenständige Uhr, auf Basis derer die lokalen Zyklen und Ereignisse ablaufen. Entscheidend dabei ist, dass alle Uhren gleich schnell laufen und die gleiche Basiszeit besitzen. Eine im EtherCAT-Slave-Controller (ESC) integrierte Regelung stellt sicher, dass sich alle Uhren an einer Referenz-Uhr orientieren und unabhängig von Temperatur und Herstell-Toleranzen synchron laufen. Eine Laufzeitmessung des Signals von der Referenz-Uhr zu jedem synchronisierten Teilnehmer – ebenfalls vom ESC, d.h. in Hardware unterstützt – ermöglicht die notwendige Gleichzeitigkeit aller Uhren. Umfangreiche Messungen haben ergeben, dass die Abweichungen sowohl bei Synchronisation als auch bei Gleichzeitigkeit – selbst bei großen Netzwerken – deutlich unter 100 ns liegen.
Hochleistungstechnologie sollte möglichst auch einfach nutzbar sein, was mit EtherCAT sehr gut gelungen ist. Welche Eigenschaften z. B. bei Engineering und Diagnose sind bezogen auf Motion-Anwendungen besonders vorteilhaft?
Dr. Guido Beckmann: Wichtige Kriterien eines Feldbussystems zur Unterstützung der Antriebstechnik sind das verwendete Kommunikationsprotokoll und -profil, die für die Kompatibilität und den effizienten Datenaustausch zwischen Steuerung und Antrieb verantwortlich sind. Das in der Antriebstechnik meistgenutzte Antriebsprofil ist das CiA402-Profil der Organisation CAN in Automation. Dieses wurde frühzeitig auf EtherCAT abgebildet (IEC 61800-7-3) und wird von nahezu allen EtherCAT-Servoantrieben unterstützt. Dadurch können diese automatisch in der Motion-Steuerung erkannt und integriert werden. Außerdem konnten so die gesamte Toolkette und vorhandene Erfahrungen zur Parametrierung entsprechender Antriebe erhalten bleiben. Da im Gegensatz zu den klassischen Feldbussen mit EtherCAT auch sehr kurze Zykluszeiten realisierbar sind, wurden von der ETG neue Betriebsarten für eine zyklussynchrone Übertragung von Positions-, Geschwindigkeits- oder Drehmoment-Prozessdaten in die Spezifikation eingebracht. Damit konnte die Funktionalität des Sollwert-Generators, der in den bisher komplexen Antriebsreglern integriert wurde, in die zentrale Motion-Steuerung verlagert werden. Das vereinfacht die Funktionalität der Antriebsverstärker und ermöglicht zudem die koordinierte Bewegungsführung mehrerer (gekoppelter) Antriebe in einer Maschine auf dem zentralen Motion-Controller.
Wie wichtig sind die Einkabellösungen OCT (One Cable Technology) und EtherCAT P für den Motion-Bereich und worin liegen die konkreten Anwendungsvorteile, insbesondere mit Blick auf die EtherCAT-Technologie?
Dr. Guido Beckmann: Hier muss man zwei Technologien unterscheiden. Beckhoff bietet mit OCT eine innovative Anschlusslösung für Servomotoren an den Servoverstärker. Bei OCT handelt es sich um ein modifiziertes Motorkabel, bei dem die beiden Thermokontaktadern für die Geberkommunikation verwendet werden, sodass eine zusätzliche Feedbackleitung entfällt. Andere Lösungen mit einem zusätzlichen Geberkabel oder einer Hybridkabellösung mit zusätzlichen Adern sind wesentlich schwieriger zu konfektionieren sowie teurer in der Anschaffung und in der Installation. EtherCAT P ist eine in der ETG standardisierte Technologie. Sie vereint die EtherCAT-Kommunikation und Power auf einem 4-adrigen Standard-Ethernet-Kabel. Die 24-V-DC-Versorgung der EtherCAT P-Slaves und der angeschlossenen Sensoren und Aktoren ist integriert: US (System- und Sensorversorgung) und UP (Peripheriespannung für Aktoren) sind voneinander galvanisch getrennt mit jeweils bis zu 3 A Strom für die angeschlossenen Komponenten verfügbar. Dabei bleiben alle Vorteile von EtherCAT, wie freie Topologie, hohe Geschwindigkeit, optimale Bandbreitennutzung, Verarbeitung der Telegramme im Durchlauf, hochgenaue Synchronisation, umfangreiche Diagnose etc., erhalten. Für große Leistungen, wie sie auch in der Antriebstechnik benötigt werden, bietet Beckhoff zudem standardisierte Hybridleitungen mit Bajonettsteckverbindern an. Diese integrieren einen EtherCAT P-Kern mit zusätzlichen Adern zur Versorgung von Geräten vom 24-V-Sensor bis zum 600-V-Antrieb. Beide Technologien, OCT und EtherCAT P, haben den Vorteil, dass die Verdrahtung innerhalb der Maschine vereinfacht und vor allem die Anzahl der Kabel reduziert wird.
Wie wichtig ist die EtherCAT-Kommunikation bei den dezentralen Motion-Lösungen AMP8000 und AMI8000?
Dr. Guido Beckmann: Genau hier kommen die Vorteile der EtherCAT P-Hybridkabel zum Einsatz. Bei diesen dezentralen Systemen wird das Konzept der schaltschranklosen Antriebstechnik konsequent umgesetzt. An ein dezentrales Versorgungsmodul mit einem Einspeiseport und fünf Motorabgängen können die dezentralen Motor-integrierten Servoantriebe angeschlossen werden. Kommunikation und Versorgung der Antriebe erfolgen über eine EtherCAT P-Hybridleitung. Das Ergebnis: signifikante Einsparungen in Hinsicht auf Material, Installationsraum, Kosten und Montageaufwand.
Das Beckhoff Motion-Spektrum ist sehr vielfältig und umfasst u. a. die kompakte Antriebstechnik im Klemmenformat, die in diesem Jahr immerhin auch schon ihr 10-jähriges Jubiläum feiert. Gibt es spezifische EtherCAT-Eigenschaften, die diesem Formfaktor besonders zugutekommen?
Dr. Guido Beckmann: Bei der kompakten Antriebstechnik von Beckhoff ist besonders die durchgängige EtherCAT-Kommunikation zu nennen. Die Antriebsverstärker für Servo-, DC-, BLDC- oder Schrittmotoren sind als EtherCAT-E-Bus-Klemmen ausgeführt, d. h. sie reihen sich ein in einen I/O-Busstrang an einen EtherCAT-Koppler. Das Besondere an der EtherCAT-Technologie ist nun, dass der EtherCAT-Frame im Buskoppler nicht umgesetzt werden muss, um auf einen internen Rückwandbus weitergeleitet zu werden, sondern, dass alle E-Bus-Klemmen einen EtherCAT-Slave-Controller enthalten und damit eigenständige EtherCAT-Geräte sind. Damit stehen auch für die kompakte Antriebstechnik alle Vorteile von EtherCAT bezüglich Performance, Synchronität und Gleichzeitigkeit zur Verfügung.
Inwieweit profitieren die intelligenten Produkttransportsysteme XTS und XPlanar von EtherCAT?
Dr. Guido Beckmann: Hier ist das Stichwort: Performance. EtherCAT bietet aufgrund seines Funktionsprinzips ausreichend Bandbreite bei kleinen Zykluszeiten an. Durch den Austausch der Daten on-the-fly und der logischen Adressierung von vielen (allen) Teilnehmern in einem Frame steht die Bandbreite von 100 MBit/s nahezu zu 100 % im EtherCAT-Segment zur Verfügung, ohne die Echtzeitfähigkeit einzuschränken. Zudem können mit nur einem EtherCAT-Frame Ausgangsdaten gesetzt und gleichzeitig an derselben Stelle im Frame Eingangsdaten wieder eingelesen werden. Damit verdoppelt sich quasi die Bandbreite. Mit dem linearen Transportsystem XTS bietet Beckhoff eine Antriebslösung, bei der sich magnetisch angetriebene Mover entlang einer Fahrstrecke aus vollintegrierten Motormodulen bewegen. Die Integration von Linearmotor mit Leistungsendstufen und Positionserfassung ins Motormodul ermöglicht einen kompakten und flexiblen Aufbau von intelligenten Transportsystemen. Da jedes Motormodul eine Vielzahl an Einzelspulen und Feedback-Sensoren enthält, müssen in jedem Regelzyklus (250 µs) sehr viele Daten von der Steuerung zu jedem Modul und zurück übertragen werden – das kann nur EtherCAT leisten. XPlanar ist ein Planarmotor, der wie rotatorische Motoren aus mehreren ortsfesten, bestromten Spulen (Kacheln) und ortsveränderlichen Permanentmagneten (Movern) besteht. Im Gegensatz zu rotatorischen Motoren sind sowohl die Spulen als auch die Permanentmagneten planar – also flächig in einer Ebene – angeordnet. Die XPlanar-Kachel ist der elektrisch aktive Teil des Systems: Die Bestromung der enthaltenen Spulen lässt die Mover über den Kacheln schweben. Beim XPlanar-System ist die benötigte Bandbreite nochmals höher als bei XTS; sie überschreitet die 100 MBit/s. Daher wird hierfür die 2018 vorgestellte Technologieerweiterung EtherCAT G genutzt. EtherCAT G ist die Fortführung des EtherCAT-Erfolgsprinzips mit einer Telegrammverarbeitung im Durchlauf mit nunmehr 1 GBit/s.
Der modulare Industrieroboter-Baukasten ATRO basiert ebenfalls auf der EtherCAT-Kommunikation. Welche Vorteile bietet diese hier sowohl beim Aufbau der Kinematik als auch beim Roboter-Betrieb?
Dr. Guido Beckmann: Das neueste System im Bereich der Beckhoff Antriebstechnik ist ATRO (Automation Technology for Robotics). Dabei handelt es sich um einen modularen Industrieroboter-Baukasten, mit dem individuell und flexibel optimale Roboterstrukturen für unterschiedliche Applikationen zusammengestellt werden können. Standardisierte Motormodule mit integrierter Antriebsfunktionalität, zusammen mit Linkmodulen in unterschiedlichen Ausführungen und Längen, ermöglichen nahezu grenzenlose Kombinationen der Mechanik. Die aktiven Motormodule sind dezentrale EtherCAT-Servoantriebe. Für eine hochdynamische und dabei präzise Bewegung und Positionierung des Roboters müssen alle Motormodule in kurzen Regelzyklen von der Steuerung mit neuen Sollwerten versorgt werden. Die Qualität der synchronisierten Bewegung aller Module ist entscheidend dafür, wie genau eine Bahn eingehalten werden kann. Durch die nahtlose Integration in die Beckhoff Architektur sind ATRO-Roboter direkt mit intelligenten Transportlösungen wie XTS und XPlanar kombinierbar. Das äußerst leistungsfähige Gesamtpaket lässt sich auf einer kompakten Maschinenkonstruktion konfigurieren, wodurch die Stellfläche minimiert wird. Alle Komponenten sind vollständig über EtherCAT synchronisiert. Hochdynamische Pick-and-Place-Anwendungen sind kein Problem – wie bei EtherCAT erfolgt die Bewegung on-the-fly.
EtherCAT ist auch nach 20 Jahren eine innovative und zukunftssichere Technologie. Wie viel Potenzial steckt noch in ihr aus Sicht der Motion-Anwendungen und welche Bedeutung werden mittel- und langfristig die Technologieerweiterungen EtherCAT G bzw. G10 erreichen?
Dr. Guido Beckmann: Zunächst muss ich betonen, dass EtherCAT auch nach 20 Jahren noch immer die schnellste Ethernet-basierte Kommunikationstechnologie auf dem Markt ist. Und das auch im Vergleich mit anderen Technologien, die schon auf Gigabit-Ethernet basieren. Die hervorragende Performance von EtherCAT erfüllt seit der Einführung im Jahr 2003 nahezu alle Anforderungen der Anwender in unzähligen Branchen und Applikationen. Einige spezielle Anwendungen im Bereich Machine Vision, Condition Monitoring oder auch die innovativen Transportsysteme XTS und XPlanar benötigen für jeden Teilnehmer mehrere hundert Byte Prozessdaten je Zyklus. Mit EtherCAT G können diese Anwendungen nun mit einem EtherCAT G-Master bedient und gleichzeitig weitere Automatisierungsgeräte oder Antriebe eingebunden werden. Hierbei ist sehr wichtig, die Einführung des sogenannten Branch-Konzepts zu erwähnen: Die Branch-Geräte ermöglichen die Integration von 100-MBit/s-Ethernet-Segmenten in ein EtherCAT G-Netzwerk. Dadurch bleibt die einzigartige Gerätevielfalt der EtherCAT-Welt auch bei Nutzung von EtherCAT G verfügbar, und kein 100-Mbit/s-Gerät wird durch EtherCAT G veralten oder gar unbrauchbar. Im Gegenteil, die robuste und bewährte 100-Mbit/s-Datenübertragung wird bei EtherCAT auch in Zukunft für fast alle Geräte der Physical Layer der Wahl bleiben. Das Branch-Konzept bietet darüber hinaus noch einen weiteren wichtigen Effizienzvorteil: Jeder Abzweig wird als eigenständiges EtherCAT-Segment betrachtet – d. h. ein Telegramm durchläuft nicht alle Segmente nacheinander, sondern die Segmente an den Branch-Ports werden parallel bearbeitet. Dies verringert die Durchlaufzeiten in großen Netzwerken signifikant.
Apropos Innovation, kann bereits die eine oder andere neue Motion-Funktionalität verraten werden, an der das EtherCAT-Team aktuell arbeitet?
Dr. Guido Beckmann: Wir haben gerade die EtherCAT-Spezifikation um einen sogenannten Dynamic Processdata Channel (DPC) erweitert. Damit ist es im laufenden Betrieb möglich, temporär zyklussynchrone Prozessdaten aus einem Gerät auszulesen oder auch zu schreiben. Für die Antriebsfunktionalität lässt sich das nutzen, um in der Inbetriebnahme ein Bode-Plot aufzunehmen und damit die Reglerparameter zu optimieren.